Politisch und wirtschaftlich war 2024 ein herausforderndes Jahr. Das Ampel-Aus hatte zur Folge, dass einige anstehende Reformen in der Legislaturperiode nicht mehr umgesetzt werden konnten. Wie wirkte sich das auf die Rentenversicherung aus?
Hildebrandt: Das vorzeitige Ende der Regierungskoalition kam unerwartet, hatte aber keine Auswirkungen auf die Arbeit der Rentenversicherung. Dank gesetzlicher Regelungen sind die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Finanzierung stets gewährleistet. Der Beitragssatz von 18,6 Prozent gilt fort und die nächste Rentenanpassung kommt, da beides nach klaren Regularien festgelegt wird.
Jöris: Allerdings konnten einige rentenpolitische Vorhaben nicht umgesetzt werden, die die Rentenversicherung betrafen. Ganz konkret war es das Rentenpaket II, das sowohl eine Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent als auch die Anhebung der Mindestrücklage von 0,2 auf 0,3 Monatsausgaben vorsah. Das letztere entsprach einer langjährigen Forderung aller Selbstverwaltungen der Deutschen Rentenversicherung. Das Generationenkapital quasi als Gegenentwurf zur von der FDP vorgeschlagenen Aktienrente wurde nicht realisiert; als Rentenversicherung haben wir uns immer dagegen ausgesprochen, dafür Beitragsmittel zu verwenden.
Uwe Hildebrandt vertritt als alternierender Vorsitzender der Bundesvertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund die Gruppe der Versicherten. Er war bis Anfang 2025 im Hauptamt Landesvorsitzender Südwest der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).
Heribert Jöris vertritt als alternierender Vorsitzender der Bundesvertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund die Gruppe der Arbeitgeber. Seit 2017 ist Heribert Jöris Geschäftsführer für Sozial- und Tarifpolitik beim Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB).
Was wünschen Sie sich von der künftigen Bundesregierung? Welche Aufgaben müssen unbedingt angegangen werden?
Hildebrandt: Wichtig wäre es, die Einführung einer Altersvorsorgepflicht für Selbstständige anzugehen – ein Thema, das uns seit vielen Jahren umtreibt. Für viele Selbstständige droht das Risiko der Altersarmut, diese vorhandene Sicherungslücke im Alterssicherungssystem muss geschlossen werden. Und auch wenn es um den wiederholten Ausbau der Mütterrente geht, muss klar sein, dass die Kosten aus dem Bundeshaushalt – und nicht aus Beitragsgeldern – finanziert werden.
Jöris: Aus meiner Sicht brauchen wir eine finanziell nachhaltige, verlässliche und sozial ausgewogene Rentenpolitik, die paritätisch die Interessen der Rentenbeziehenden als auch der Beitragszahlenden im Blick hat. Das bedeutet neben der Stärkung der Liquidität der Rentenversicherung auch eine Neuordnung der Bundeszuschüsse, wie sie bereits mit dem nicht verabschiedeten Rentenpaket II vorgesehen war. Eine definierte Zweckbindung der Bundeszuschüsse könnte dazu beitragen, deren Kürzungen zur Sanierung des Bundeshaushaltes zu vermeiden – haushaltspolitisch motivierte Verringerungen der Bundeszuschüsse darf es nicht geben! Denn eines wird bei der Diskussion immer vergessen: Die Mittel des Bundes sind keine Finanzspritze, die die Rentenversicherung am Leben erhalten. Die Bundeszuschüsse dienen vielmehr der sachgerechten Finanzierung nicht beitragsgedeckter Leistungen, die als gesamtgesellschaftliche Aufgabe von allen Steuerzahlenden und damit vom Bund finanziert werden sollten.
Wie haben sich vor diesem Hintergrund die Finanzen der Rentenversicherung entwickelt?
Jöris: Die Deutsche Rentenversicherung steht finanziell auf soliden Beinen, wenn eine konsequente Gegenfinanzierung versicherungsfremder, nicht beitragsgedeckter Leistungen durch Steuermittel erfolgt. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Einnahmen aus der beitragspflichtigen Beschäftigung in den zurückliegenden Jahren konstant angewachsen sind. Im vergangenen Jahr sind die Bruttolöhne und -gehälter gestiegen – um ganze 5,0 Prozent, und auch der Arbeitsmarkt erwies sich als beständig. Unsere Einnahmen sind dadurch im Vergleich zu 2023 um 5,6 Prozent auf 305,9 Milliarden Euro gestiegen. Dem gegenüber sind die Ausgaben um 6,1 Prozent auf 402,8 Milliarden Euro gewachsen.
Hildebrandt: Einer der Gründe, warum die Ausgaben 2024 angestiegen sind, ist die demografische Entwicklung, wenn auch nur in geringerem Anteil. Der weitaus größere Teil des Anstiegs der Ausgaben entfällt auf die deutlich positiven Rentenanpassungen. Der aktuelle Rentenwert ist zum 1. Juli 2024 bundesweit um 4,57 Prozent auf 39,32 Euro gestiegen. Damit haben sich die Renten für rund 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner deutlich verbessert. Auch in Bezug auf die Erwerbsminderungsrenten wurden erhebliche Verbesserungen für Rentenbeziehende umgesetzt.
Eine andere Kernaufgabe der Rentenversicherung sind die Präventions- und Rehabilitationsleistungen. Wie ist es aktuell um sie bestellt?
Jöris: Prävention und Rehabilitation leisten einen wichtigen Beitrag für den langfristigen Erhalt und die Wiederherstellung der Erwerbstätigkeit. Diese spielt vor dem Hintergrund einer verlängerten Lebenszeit und des demografischen Wandels eine wichtige Rolle. So können Beschäftigte bei ersten gesundheitlichen Einschränkungen das Präventionsprogramm RV Fit in Anspruch nehmen. Insgesamt sind auch die durchgeführten medizinischen Rehabilitationen seit dem pandemiebedingten Rückgang wieder angestiegen, auf 1.050.386. Das jüngst neu gestaltete Wunsch- und Wahlrecht wurde ebenfalls stärker genutzt, über 60 Prozent der Menschen machten bei ihren Anträgen für medizinische Leistungen zur Rehabilitation davon Gebrauch. Und wir haben beobachtet, dass die Behandlung psychischer Erkrankungen zugenommen hat – mit einem geschlechterspezifischen Unterschied: Bei den Frauen sind es rund 21 Prozent, die eine Rehabilitation wegen psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen in Anspruch nehmen, bei den Männern lediglich 13 Prozent.
Welche Entwicklungen werden in der Rentenversicherung im Bereich der Digitalisierung angestrebt?
Hildebrandt: In einer zunehmend digitalen Welt ist eine stabile IT-Infrastruktur wichtig. Unsere Systeme brauchen einen umfangreichen Schutz, denn die Gefahr von Angriffen steigt kontinuierlich. Um unsere Leistungsfähigkeit noch zu verbessern, testen wir aktuell auch verschiedene KI-Anwendungen. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) hat das Potenzial, zahlreiche Arbeitsbereiche und unsere Mitarbeitenden zu entlasten. Aber auch für die Versicherten bringt sie Vorteile, indem die Serviceleistungen verbessert werden. Wir sehen darin im Kern eine große Chance, insbesondere vor dem Hintergrund des doppelten demografischen Wandels. Durch die Babyboomer-Jahrgänge, die nach und nach in Rente gehen, kommt mehr Arbeit auf uns zu, gleichzeitig gehen auch immer mehr Mitarbeitende in den Ruhestand. Um das abzufedern, müssen wir die Prozesse digitalisieren, um effizient und leistungsfähig zu bleiben. Es gibt für uns keine Alternative, als die Tätigkeiten, die wir automatisieren können, zu automatisieren. Wesentlich bleibt es für uns weiterhin, dass die Technik uns unterstützt, unsere Arbeit zu bewältigen.
Jöris: Ja, die Digitalisierung soll den Menschen zugutekommen, den Versicherten und den Mitarbeitenden. Seit Beginn der Pandemie konnte die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer verzehnfacht werden, die ihre Anträge elektronisch einreichen. Ein Beispiel ist auch hierfür, dass wir erhebliche Mengen an Papier eingespart haben; 2024 wurden 154 Millionen Blatt Papier weniger gedruckt als noch im Jahr 2018.
Im vergangenen Jahr wurde der Schlussbericht der Sozialwahl 2023 vorgestellt. Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus der Analyse?
Hildebrandt: Erstens ist es uns gelungen, in der Selbstverwaltung die Anzahl der weiblichen Mitglieder deutlich zu erhöhen, selbst bei den Sozialversicherungsträgern, bei denen die Frauenquote nur fakultativ einzuführen war. Die Vorschlagslisten zur Sozialwahl sollten zu gleichen Teilen Frauen und Männer enthalten, mindestens jedoch einen Anteil von 40 Prozent aufweisen. Zweitens wurden im Rahmen eines Modellprojekts auch Onlinewahlen durchgeführt, zunächst mit fünf gesetzlichen Krankenkassen. Die Möglichkeit, bei einer gesetzlich veranlassten Wahl online zu votieren, war bisher einmalig in Deutschland. Trotz dieser Neuerungen war die Wahlbeteiligung nicht so hoch wie erhofft, vor allem mit Blick auf jüngere Versicherte. Um die Sichtbarkeit in Gesellschaft und Politik zu stärken, ist es unabdingbar, in Schulen und Bildungseinrichtungen Grundwissen über das deutsche Sozialversicherungssystem zu vermitteln. Doch auch eine Verankerung der Sozialen Selbstverwaltung im Grundgesetz würde die öffentliche Wahrnehmung steigern. Nur so gelingt es uns, trotz der vielen Fortschritte, gut für die nächste Sozialwahl 2029 aufgestellt zu sein.
Die Soziale Selbstverwaltung als gelebte Demokratie: Wie schätzen Sie Ihre Rolle in Zeiten der zunehmenden Polarisierung ein?
Jöris: Auch ohne bisher im Grundgesetz verankert zu sein, verstehen wir uns als elementaren Bestandteil der Demokratie. Unsere Demokratie kann ohne das gesellschaftliche Engagement auf den vielen verschiedenen Ebenen – vom Parlament bis zum Verein – nicht funktionieren. Wir bekennen uns zu unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung und setzen uns für eine offene Gesellschaft sowie ein respektvolles Miteinander im Sinne unserer Demokratie ein. Das tun wir in unserer täglichen Arbeit und für die Soziale Selbstverwaltung heißt das ganz konkret, dass Versicherte, Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber aus ihrer Mitte heraus ihre Interessenvertretung wählen können.